31. Kolloquium zur Polizeigeschichte: Polizei, Arbeit und Kontrolle

31. Kolloquium zur Polizeigeschichte: Polizei, Arbeit und Kontrolle

Organisatoren
Institut für Historische Sozialforschung / Arbeiterkammer Wien / Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien
PLZ
1010
Ort
Wien
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
30.06.2022 - 02.07.2022
Von
Paul Dvořak, Institut für Historische Sozialforschung, Arbeiterkammer Wien

Vom 30. Juni bis 2. Juli 2022 fand an der Universität Wien das 31. Kolloquium zur Polizeigeschichte statt, ausgerichtet vom Institut für Historische Sozialforschung (IHSF), der Arbeiterkammer Wien und dem Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien. Die Begrüßung erfolgte durch Ilse Reiter-Zatloukal, Professorin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, gemeinsam mit dem Leiter des IHSF, Florian Wenninger, der die institutionellen Organisatoren des diesjährigen Kolloquiums vorstellte und das Anliegen und die Geschichte der Polizeikolloquien skizzierte. Die Kolloquien zeichneten sich demzufolge traditionell durch das Bemühen aus, die Institution der Polizei und polizeiliches Handeln im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Interessensgegensätze zu untersuchen. Zudem seien die Kolloquien durch den Versuch geprägt, Praxis und Theorie in einen fruchtbaren Dialog zu setzen, das heißt, den Austausch zwischen aktiven Polizeibeamt:innen und Wissenschafter:innen gezielt zu forcieren, um auf diese Weise multiperspektivische Zugänge zu schaffen.

Die Keynote Lecture hielt PETER BECKER (Wien), der an den entscheidenden Beitrag Alf Lüdtkes zur Entwicklung der Kolloquien zur Polizeigeschichte erinnerte und Lüdtkes Konzepte von Alltagsgeschichte und Eigen-Sinn mit der Entwicklung der Polizeigeschichte verknüpfte. Becker machte drei Wenden, drei Perspektivenwechsel in der Geschichtswissenschaft aus, die der Polizeigeschichte neue Impulse verliehen hätten: den performative turn, den linguistic turn und den spatial turn. Sodann ging Becker auf die Entwicklung des Forschungsfeldes nach den turns ein, wobei er drei Trends in der Polizeigeschichtsforschung hervorhob: Erstens die Auseinandersetzung mit Polizei als Organisation und Möglichkeiten der Kontrolle von Polizei durch Gerichte und Staatsbürger:innen; zweitens die Analyse von Polizei in ihren kulturellen, normativen und politischen Rahmungen, insbesondere in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Transformation; drittens die Erforschung von Polizei und Identität auch im Kontext eines neuen Blicks auf Klasse und Polizei als Arbeit. In der von Ilse Reiter-Zatloukal geleiteten Diskussion wurden anschließend u.a. Fragen der Männlichkeit in der Polizeiarbeit (Rollenmodell, Rollenerwartungen und organisationskulturelle Vermittlung) angesprochen, desgleichen, inwiefern der transnational turn oder global turn für die Polizeigeschichte nutzbar gemacht werden könnte, oder ob Polizei sich aufgrund ihrer Einbettung in nationalstaatliche Strukturen solchen Sichtweisen grundsätzlich entziehe. Ein Diskussionsbeitrag warf schließlich die Frage auf, wie Prozesse des Scheiterns in der Polizeiarbeit in der Forschung angemessen berücksichtigt und untersucht werden könnten.

Der zweite Tag der Konferenz begann am 1. Juli mit einem Panel zu „Polizeiarbeit zwischen sozialen Interessenskonflikten und Idealisierung“, moderiert von Klaus Weinhauer (Bielefeld). MARKUS BÖICK (Bochum) stellte zunächst seine Forschung über private Nachtwächter als Subjekte und Objekte in Klassenkonflikten vor. Mit Blick auf die Pinkertons in den USA sei das Phänomen der Privatisierung von Sicherheitsaufgaben durch staatliche Akteure in Deutschland bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Sozialdemokratie argwöhnisch beobachtet worden, spielten doch die Pinkertons eine wesentliche Rolle bei der Unterdrückung der nordamerikanischen Arbeiterbewegung. Bei den seit den 1890er-Jahren im Deutschen Reich entstehenden Wach- und Schließgesellschaften sei das in diesem Ausmaß nicht der Fall gewesen. Hingegen wären in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine allmählich stärker werdende Organisation der Nachtwächter in der Transportarbeitergewerkschaft und auch erste Streiks zu beobachten gewesen.

MELANIE FOIK (Münster) widmete sich in ihrem Vortrag einem populären Genre der polnischen Publizistik, namentlich der „Milizliteratur“ von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre. In den massenhaft erschienenen Milizromanen, die als eine Mischform zwischen Propaganda- und Unterhaltungsliteratur anzusehen seien, wäre polizeiliches Agieren in der kommunistischen Diktatur auf einer popkulturellen Ebene be- und verhandelt worden. Im Zentrum der Handlung habe der Arbeitsalltag der „Miliz“ (Milicja Obywatelska) genannten polnischen Polizei gestanden. Anstelle genialer Einzelarbeiter in der vorangehenden „Epoche des Heldentums“ sei im „neuen Polen“ kollektive Arbeit von Spezialisten gefragt gewesen. Auch die Geschlechterordnung der polnischen Nachkriegsgesellschaft habe in der Milizliteratur ihren Niederschlag gefunden, so seien Frauen dramaturgisch meist auf die Rolle als Sekretärinnen, gelegentlich auch als Laienermittlerinnen beschränkt gewesen, während sie nur selten als professionelle Ermittlerinnen behandelt worden wären. Darin sei auch eine Abgrenzung vom Stalinismus zu sehen, der Frauen in Männerberufen stark forciert habe. Dieser Trend sei in der Periode ab 1956 dann rückgängig gemacht oder gar als „unpolnisch“ gebrandmarkt worden. Wiewohl die Romane das Bild der Miliz in der polnischen Öffentlichkeit verbessern sollten und aufgrund institutioneller Einflussnahme auch als Dokumente der Eigenbeschreibung der Polizei zu verstehen seien, hätten sie zusätzlich (sonst kaum vorhandene) Gelegenheit geboten, gesellschaftliche Missstände zu artikulieren.

Der Vortrag von LARS MÜLLER (Leipzig) widmete sich der Rekrutierung und Ausbildung der deutschen Kolonialpolizei, die ab 1936 in Vorbereitung auf die neuerliche Eroberung von Kolonien aufgestellt wurde. In Struktur und Ausbildung hätten die nationalsozialistischen Machthaber an die Erfahrungen der deutschen Kolonialpolizei vor dem Ersten Weltkrieg angeknüpft, insbesondere was Kriterien der Tauglichkeit anbelangte. Stärker noch als früher seien jenseits formaler medizinischer Kriterien auch Aspekte des individuellen Lebenswandels und Charakters einbezogen worden. Müller sah darin einen deutlichen Niederschlag der NS-Ideologie, in deren Sinne künftige Kolonialpolizisten als Vertreter des „deutschen Volkes“ in Afrika in besonderem Maße rassistischen Vorstellungen zu entsprechen gehabt hätten.

Das von Gerhard Fürmetz (München) moderierte zweite Panel war dem Generalthema „Polizeiarbeit in Kriegs- und Nachkriegszeit“ gewidmet. Zunächst stellten BARBARA STELZL-MARX (Graz) und HARALD KNOLL (Graz) die Ergebnisse ihrer Forschung zu Verhaftung und Verurteilung österreichischer Polizisten durch die sowjetische Armee zwischen 1945 und 1955 vor, die sie im Rahmen eines größeren Projektes des österreichischen Innenministeriums durchgeführt hatten. Im Zentrum der Untersuchung standen gut 50 Personen, die aufgrund ihrer Beteiligung an der Ermordung sowjetischer Zivilist:innen – großteils Jüdinnen und Juden – zwischen 1947 und 1950 von der österreichischen Justiz an die sowjetischen Besatzungsbehörden übergeben und anschließend durch deren Militärtribunale abgeurteilt worden waren. Als Quellenbasis stützte sich die Studie vornehmlich auf sowjetische Dokumente.

Im Anschluss daran referierte STEFAN LAFFIN (Bielefeld) über Carabinieri und ihre Rolle während der alliierten Besatzung Süditaliens 1942-1946/47. Faschistische Beamte hätten im Zuge der alliierten Invasion und insbesondere nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes und der italienischen Kapitulation im Juli bzw. September 1943 häufig ihre Posten verlassen. Im Bemühen, das zivile Leben zu reorganisieren, hätten sich die Alliierten dann stark auf die Carabinieri gestützt. Formal Teil der italienischen Streitkräfte, seien die Carabinieri aufgrund ihres engeren Bezugs zum piemontesisch-italienischen Herrscherhaus Savoyen weniger mit dem faschistischen Regime identifiziert gewesen. Ihre Heranziehung habe aber auch die Weichen zu einer restaurativ-konservativen Nachkriegsordnung im Süden Italiens gestellt, denn die politischen Einstellungen der meisten Carabinieri-Beamten führten zu einer Festigung des sozialen status quo, insbesondere der Fortschreibung der ohnehin starken Stellung von Großgrundbesitz und katholischer Kirche.

Als dritter Panelist gab sodann FRANK KAWELOVSKI (Gelsenkirchen) Einblick in den Alltag der Polizeiarbeit im späteren Nordrhein-Westfalen unmittelbar nach 1945. Er unterstrich die schwierigen Rahmenbedingungen, wie fehlende Ausstattung und Ausrüstung und hohe Personalfluktuation. Die Alliierten hätten den deutschen Polizeikräften misstrauisch gegenübergestanden, nach Ansicht des Referenten zu Unrecht, zumal sich in den Nachkriegswirren nur mit Mühe das staatliche Gewaltmonopol habe durchsetzen lassen. Dieser Auffassung widersprachen in der Diskussion mehrere Redner:innen, die überdies die unreflektierte Verwendung von zeitgenössischen Begriffen wie „marodierende Fremdarbeiter“ kritisierten und die Frage aufwarfen, inwiefern das Polizeipersonal der Nachkriegszeit nicht tatsächlich ein Hindernis für die Demokratisierung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gewesen sei.

Im von Florian Wenninger (Wien) moderierten dritten Panel widmete sich zunächst OTTOKAR LUBAN (Berlin) der Repression linker Sozialdemokrat:innen während des Ersten Weltkrieges durch die Berliner Polizei. Diese habe sich ab 1916 insbesondere auf die Überwachung der Spartakusgruppe, ab 1917 der USPD konzentriert und systematisch versucht, deren Wirkungsgrad durch Maßnahmen wie Versammlungsverbote, straffe Zensurmaßnahmen und Inhaftierung oder Einziehung zentraler Akteure zum Militärdienst hintanzuhalten. Insgesamt seien die ergriffenen Maßnahmen und die Unterdrückung kriegskritischer Stimmen als überaus effizient zu bewerten, zumal es der Polizei gelungen wäre, trotz schwerer sozialer Verwerfungen, Hunger und einer immer stärker werdenden Kritik am Krieg und den herrschenden Zuständen, das Bestehen der Hohenzollernmonarchie bis November 1918 zu gewährleisten.

PÉTER TECHET (Freiburg/Zürich) stellte anhand des Wiener Straßenpolizeigesetzes 1928 und seiner Behandlung vor dem Verfassungsgerichtshof den Konflikt zwischen dem „roten“ Wien und der christlich-sozialen Bundesregierung dar. In Folge des Justizpalastbrandes und der Tötung von 85 Demonstrant:innen und Passant:innen durch die Wiener Polizei im Juli 1927 habe die Stadt Wien, die zugleich auch den Status eines Bundeslandes einnahm, ein eigenes Landesgesetz verabschiedet, mit dessen Hilfe die Straßenpolizei dezidiert der Landeskompetenz unterstellt werden und so die Einflussmöglichkeiten der Bundespolizei reduziert werden sollten. Auf Betreiben der Bundesregierung habe der Verfassungsgerichtshof, der in anderen Fällen durchaus polizeiliche Landeskompetenzen bestätigt hätte, das Gesetz aufgehoben. Damit sei faktisch die Vormachtstellung des „schwarzen“ Bundes über das „rote“ Land zementiert worden.

MARTIN PLATT (Jena) rekonstruierte in seinem Vortrag sowohl handlungsleitende Motive polizeilicher Akteure als auch und vor allem die öffentliche Wahrnehmung von Polizeikräften in der deutschen Revolution von 1918/19 auf Basis zeitgenössischer Printmedien. Ausgangspunkt war das basse Erstaunen von Zeitgenoss:innen des revolutionären Umbruchs von 1918 über das plötzliche Implodieren eines gerade noch als allmächtig und omnipräsent empfundenen preußisch-deutschen Obrigkeitsstaats, den auf der Straße die Polizei repräsentiert hatte, die sich jedoch mit einem Mal im öffentlichen Raum kaum noch habe blicken lassen. Bemerkenswerterweise hätte dieses Verschwinden – einerlei, ob es nun als Pflichtverletzung oder als indirekte Beitragshandlung zur vor sich gehenden Transformation des politischen Systems interpretiert wurde – jedoch keinerlei Erörterung erfahren. Der Vortragende interpretierte dieses Schweigen als Ausdruck des in der zeitgenössischen Forschung mehrfach thematisierten „Unsicherheitsdiskurses“.

Das vierte Panel war, moderiert von Lena Haase (Trier), der Polizei und ihrer Rolle als Kontroll- und Unterdrückungsinstrument von Arbeiter:innen beziehungsweise der Arbeiterbewegung gewidmet. Einzig hier machte sich die nach wie vor nicht ausgestandene COVID-Pandemie bemerkbar, krankheitsbedingt musste der Vortrag von ACHILLES FOTAKIS (Athen) über die Polizierung der Arbeiterschaft von Piräus im Nachkriegsgriechenland entfallen.

FRANK JACOB (Bodø/Wien) untersuchte ausgehend von einer zentralen Figur der japanischen Arbeiterbewegung, Katayama Sen, die Frontstellung der japanischen Polizei gegen die aufkommende Arbeiterbewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sen sei maßgeblich durch seine Erfahrungen in Deutschland und den USA politisiert worden und nach seiner Rückkehr als Publizist und Agitator rasch in einen Gegensatz zum autoritären Staat geraten, der auf die durch die Industrialisierung Japans binnen weniger Jahrzehnte bedingten sozialen Umwälzungen und Verwerfungen äußerst repressiv reagiert habe. Die strikte Überwachung und Behinderung seiner Aktivitäten hätte schließlich auch eine Fortsetzung der politischen Aktivitäten Sens in Japan verunmöglicht. Dieses Vorgehen der Polizeibehörden interpretierte Jacob als Indiz dafür, dass nicht nur die Arbeiterbewegung, sondern auch die Eliten – freilich unter entgegengesetzten Vorzeichen – aus Erfahrungen von Gesellschaften zu lernen versucht hätten, die vergleichbare Prozesse bereits zuvor durchlaufen hatten.

HENDRIK MALTE WENK (Dresden) untersuchte in seinem Vortrag den Umgang mit dem Straftatbestand der „Asozialität“ im Arbeitsregime der DDR unter besonderer Berücksichtigung der Abschnittsbevollmächtigten der Deutschen Volkspolizei. Die Gründe für eine Einordnung als problematisches Subjekt seien mannigfaltig und keineswegs nur auf Arbeitsverweigerung im engeren Sinne zurückzuführen gewesen. Dementsprechend sei auch die polizeiliche Reaktion nicht nur auf die Arbeitsumgebung beschränkt gewesen, sondern habe die gesamte Lebensumgebung der Betroffenen in den Blick genommen. Die Abschnittsbevollmächtigten hätten auch eine Scharnierfunktion zwischen Volkspolizei und Betrieben eingenommen und auffällig gewordene Personen teils Jahre nach den entsprechenden „Vorfällen“ noch engmaschig überwacht. Die einschlägigen Aktivitäten hätten nicht nur auf individuelle Resozialisierung gezielt, sondern auch eine Ventilfunktion für soziale Konflikte und gesunkene Arbeitsmoral in den Betrieben gehabt.

Das fünfte Panel setzte sich unter dem Vorsitz von Herbert Reinke (Wuppertal) mit dem Komplex „Polizei und Arbeit“ auseinander. JAN RENKEN (Göttingen) eröffnete mit einem Vortrag über gewerkschaftliche Organisationsansätze in der Polizei von den Anfängen der Bundesrepublik bis 1969. Dabei strich er besonders die unterschiedlichen Vorstellungen von polizeilicher Tätigkeit und Zuständigkeit hervor, die in der deutschen Gesellschaft und in der deutschen Gewerkschaftsbewegung vorherrschten: Während sich Polizisten in unterschiedlichen Interessensorganisationen zusammenfanden, um ihre sozialen Anliegen als Beschäftigte effizienter durchzusetzen, sei in der restlichen Gewerkschaftsbewegung durchaus umstritten gewesen, wie gewerkschaftliche Tätigkeit von Bediensteten der Polizei aufgrund von deren Beamtenstatus zu beurteilen wäre. Ausgehend von der Gewerkschaft der Polizei spürte der Beitrag daher insbesondere auch dem sozialen Selbstverständnis von Polizeigewerkschaftern nach.

Daran schloss PHILIPP MORITZ (Wien) mit einem Beitrag über die Vernehmung österreichischer Remigrant:innen aus der Sowjetunion durch die österreichische Polizei zwischen 1934 und 1938 an. Als Quelle dienten ihm dabei erhalten gebliebene Vernehmungsprotokolle. Das austrofaschistische Regime habe befürchtet, dass nicht alle Rückkehrer:innen aus der Sowjetunion tatsächlich ihren allfälligen Sympathien für den Kommunismus so abgeschworen hätten, wie sie es zumindest in den Vernehmungen behaupteten. Vielmehr, so die Befürchtung, versuche die von der Diktatur in die Illegalität gedrängte KPÖ auf diesem Wege, ihre Kader gewissermaßen offiziell nach Österreich einzuschleusen. Ziel der Vernehmungen sei es also gewesen, einer derartigen Infiltration vorzubeugen und kommunistische Aktivist:innen herauszufiltern, aber auch mehr über die sozialen Zustände und österreichische Emigrant:innen in der Sowjetunion in Erfahrung zu bringen. Orientiert an Alf Lüdtkes Eigen-Sinn-Begriff analysierte der Beitrag dabei auch die Argumentationsstrategien der Vernommenen.

ANNEMIEKE MUNDERLOH (Göttingen) interessierte sich angesichts der in den letzten Jahren intensivierten Bemühungen, Menschen mit Migrationshintergrund für den Polizeidienst zu gewinnen, für die Wahrnehmungen von Polizist:innen aus migrantischen Familien. Auf Grundlage narrativer Interviews mit sechs Beamt:innen ging Munderloh unter anderem der Frage nach, mit welchen Diskriminierungen diese im Rahmen ihrer Berufsausübung konfrontiert waren, aber auch welche Strukturen und Handlungsweisen sie als förderlich erfahren hätten. Sie identifizierte beispielhaft Schlüsselerlebnisse der Interviewten und beleuchtete die daraus abgeleiteten aktiven wie passiven Handlungsmuster. Die Erkenntnisse waren wohl auch als Beitrag bzw. Grundlage einer verbesserten polizeilichen Fehlerkultur zu verstehen.

Das sechste Panel war als „freie Sektion“ konzipiert und wurde von Gerhard Sälter (Berlin) geleitet. Ausgehend von der Hypothese, dass auch gegenwärtige Formen der Beschwerdeführung gegen polizeiliches Handeln maßgeblich Pfaden folgen, die bereits im 19. Jahrhundert entstanden, berichtete zunächst ANJA JOHANSEN (Dundee) über Beschwerdemöglichkeiten und accountability im weitesten Sinn bei der Londoner und Pariser Polizei zwischen den 1820er- und den 1890er-Jahren. Bereits die Anfänge moderner Polizeiapparate seien untrennbar mit der Frage verbunden gewesen, wie mit allfälligem Fehlverhalten von Polizisten umzugehen sei. Spätestens seit den 1880er-Jahren weise zwar die alltägliche Polizeiarbeit im Vereinigten Königreich und Frankreich starke Parallelen auf, dies gelte jedoch nicht für den Umgang mit Protesten gegen ungerechtfertigtes polizeiliches Handeln, wo zwei gänzlich unterschiedliche Kulturen erkennbar seien.

DAVID COX (Wolverhampton) beleuchtete die Behandlung der allmählich größer werdenden motorisierten Öffentlichkeit durch die Polizei im nordwestenglischen Cheshire zwischen 1900 und 1939. Im Zentrum seiner Ausführungen standen jene Spannungen, die sich in einer auf Unterordnung ausgerichteten Klassenstruktur ergaben, als Polizisten immer stärker versuchten, die weitgehend der Ober- und Mittelschicht angehörenden Automobilisten zu kontrollieren und die zahlreicher werdenden Regelungen und Gesetze zum Straßenverkehr auch gegenüber sozial Höhergestellten im Alltag durchzusetzen. Dies brachte die Polizei in Kontakt mit Bevölkerungsgruppen, mit der sie bis dahin kaum konfrontiert gewesen war und die ihr auch anders begegneten als jene Unterschichten, die im Fokus der traditionellen Polizeiarbeit gestanden hatten.

MARCEL SCHMEER (München) analysierte schließlich das Verhältnis zwischen Migrant:innen und Polizei in West-Berlin von den späten 1960er- bis Ende der 1970er-Jahre. Während sich die Polizei zunächst auf die Unterbindung „illegalen“ Zuzugs bei gleichzeitiger effizienter Administration der „legalen“ Zuwanderung konzentrierte und dafür eine eigene Abteilung gründete („Arbeitsgebiet gezielte Ausländerüberwachung“), rückte bald mehr und mehr die Frage ins Zentrum, ob auch zugewanderte Menschen die Möglichkeit haben sollten, in den Polizeidienst zu treten. In dieser Debatte, so Schmeers Befund, seien nicht nur Sicherheitsvorstellungen, sondern in einem weiteren Kontext auch grundlegende Fragen kulturellen Selbstverständnisses verhandelt worden.

In seiner Concluding Lecture spannte MARTIN THÜNE (Gotha) ausgehend von Peter Beckers Ausführungen über die Zäsuren in der bisherigen Polizeigeschichtsschreibung einen Bogen zur Frage: Wie weiter mit der Polizeigeschichtsschreibung? Dabei unterstrich Thüne, selbst ausgebildeter Polizist und Kriminologe, die potenzielle praktische Dimension von Polizeigeschichtsschreibung, die nicht nur Analysen, sondern auch Alternativen für die polizeiliche Praxis bereitstellen könne. Zugleich warf Thüne die Frage der Transmission in den Apparat auf und drängte auf eine stärkere Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards in der Polizeiausbildung und mehr Selbstreflexion der Polizei als Institution, die ein vitales Interesse an einer stärkeren Beforschung ihres Tuns haben müsse, auch wenn die Ergebnisse in manchen Fällen nicht angenehm seien. Bezug nahm Thüne an dieser Stelle besonders auf jene Beiträge, die sich mit der Rolle der Polizei in der Migrationsgesellschaft befasst hatten. Weshalb, so seine rhetorische Frage, gäbe es nicht ganz selbstverständlich Soziolog:innen, die Polizeidirektor:innen berieten? Auch die vorhandenen Möglichkeiten und Institutionen einer (neben)beruflichen Aus- und Weiterbildung sollten gestärkt werden, so Thüne.

In der abschließenden Diskussion betonte Michael Haunschild, wie wichtig die vom Vortragenden erwähnte Fehlerkultur für die Polizei wäre, die der jetzt noch weitverbreiteten Vorstellung („Wer nichts macht, macht keine Fehler, wer keine Fehler macht, wird befördert“) zwar zuwiderläuft, aber sinnvoll wäre. Herbert Reinke schlug vor, die Konjunktur der Polizeiforschung verstärkt in den Blick zu nehmen. Thomas Lindenberger verwies auf neue Sicherheitsthemen durch den Klimawandel und die digitale Revolution. In seinen abschließenden Bemerkungen zur Debatte betonte Thüne, dass in der Führungsebene sowohl der Polizei als auch der politisch Verantwortlichen im Moment noch zu wenig Interesse an einer stärker wissenschaftlich orientierten Ausbildung, in logischer Konsequenz aber auch an wissenschaftlicher Expertise für die Polizeiarbeit bestehe. Das zeige sich eben auch in der Ausbildung, die künftig sinnvollerweise in Richtung eines BA/MA der Polizei gehen müsse. Bei aller Bringschuld der Polizei halte er, Thüne, es jedoch auch für die Verantwortung der (Polizei)wissenschafter:innen, mit ihren Forschungsergebnissen und Studien auf die interessierte Öffentlichkeit und besonders auf die Politik zuzugehen, um Veränderungen bei der Polizei zu bewirken.

Konferenzübersicht

Begrüßung: Florian Wenninger, Ilse Reiter-Zatloukal

Keynote & Diskussion:
Peter Becker (Wien): Polizeigeschichte nach den turns

Panel 1: Polizeiarbeit zwischen sozialen Interessenskonflikten und Idealisierung
Chair: Klaus Weinhauer

Marcus Böick (Bochum): Ausgebeutete „Hungerlöhner“ oder „Privatsoldaten“ des Kapitals? Private Nachtwächter als Täter und als Opfer in Klassenkonflikten seit dem späten 19. Jahrhundert

Melanie Foik (Münster): Dokumentation oder Idealisierung? – Der Arbeitsalltag polizeilicher Ermittlungsbehörden in der polnischen ‚Milizliteratur‘ der 1950er- bis 80er-Jahre

Lars Müller (Leipzig): „Wer draußen versagt, versagt nicht nur für sich allein, sondern für sein Volk“. Rekrutierung und Ausbildung einer deutschen Kolonialpolizei ab 1936

Panel 2: Polizeiarbeit in Kriegs- und Nachkriegszeit
Chair: Gerhard Fürmetz

Barbara Stelzl-Marx & Harald Knoll (Graz): Unter sowjetischer Kontrolle. Verhaftungen und Verurteilungen ehemaliger österreichischer Polizisten durch die Rote Armee 1945–1955

Stefan Laffin (Bielefeld): Die Carabinieri als Lokalnotabeln während der alliierten Besatzung Süditaliens: Machtdurchsetzung und Kontrollinstanz im lokalen Kontext 1943 bis 1946/47

Frank Kawelovski (Gelsenkirchen): Polizeiarbeit in Trümmern – Die Arbeitsbedingungen der nordrhein-westfälischen Polizei nach Kriegsende

Panel 3: Polizei in gesellschaftlichen Umbruchsituationen
Chair: Florian Wenninger

Ottokar Luban (Berlin): Überwachung und Bekämpfung der linken Sozialdemokratie während des Ersten Weltkrieges durch die Politische Polizei des Polizeipräsidiums Berlin

Péter Techet (Freiburg/Zürich): Wiens Antwort auf den Justizpalastbrand: Wiener Straßenpolizeigesetz vor dem Verfassungsgerichtshof und im politischen Machtkampf 1928/29

Martin Platt (Jena): „Gestern war das alles noch da“. Die öffentliche Wahrnehmung von Polizeikräften in der deutschen Revolution 1918/19

Panel 4: Polizei und Arbeiterschaft
Chair: Lena Haase

Frank Jacob (Bodø/Wien): Katayama Sen, die japanische Arbeiterbewegung und die Rolle der Polizei als Kontrollinstrument des autoritären Staates (1896–1914)

Hendrik Malte Wenk (Dresden): Die Abschnittsbevollmächtigten der Deutschen Volkspolizei und das Problem der „Asozialität“ in der DDR-Arbeitswelt

Panel 5: Polizei und Arbeit
Chair: Herbert Reinke

Jan Renken (Göttingen): Ambivalenzen der Arbeit. Polizeigewerkschaftliche Perspektiven auf eine Transformation der Gesellschaft 1949–1969

Philipp Moritz (Wien): „Ich bin von jeder Politik gründlich geheilt und werde mich nach meiner Entlassung in jeder Hinsicht loyal verhalten.“ Das staatspolizeiliche Interesse an den Vernehmungen österreichischer Remigrant:innen aus der UdSSR

Annemieke Munderloh (Göttingen): „Du merkst halt wieder, mit welchen Augen du gesehen wirst." Eine rekonstruktive Analyse zu Handlungs(un)fähigkeiten von Menschen mit Migrationsgeschichten im Arbeitskontext deutscher Polizeien

Panel 6: Freie Sektion
Chair: Gerhard Sälter

Anja Johansen (Dundee): Constructing police control and accountability mechanisms in London and Paris, 1829–1880s, and its influence on complaint procedures in the 21st century

David Cox (Wolverhampton): „We believe our police are careful not to unduly harass you ladies and gentlemen” – an examination of the relationship between the police of Cheshire, England and the motoring public, 1900–1939

Marcel Schmeer (München): Von der „Arbeitsgruppe Ausländer“ zum „anatolischen Schutzmann“? Zum Verhältnis von Polizei und Migrationsgesellschaft in West-Berlin

Concluding Lecture:

Martin Thüne (Gotha): Blick zurück, Blick nach vorn. Das Spannungsfeld von Polizei, Arbeit und Kontrolle

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